Die 8. „Berlin Biennale“ beschäftigt sich mit der städtebaulichen Entwicklung der Hauptstadt und zeigt doch weit darüber hinaus. Sie führt an etliche Randzonen der Erde und will wissen, was der Begriff „Kultur“ in Verbindung zur Wissenschaft und Kunst heute bedeutet. In Anbetracht derart gewichtiger Fragen wird die Kunst bisweilen zu einem Nebenschauplatz.
Ganz schön stressig ging es dieser Woche in Berlin zu. Gut zwanzig Tage vor dem Start der Kunstmesse, der „Art Basel“, strömte die Kunstwelt zahlreich in die Hauptstadt und fand dort einen Reigen an Biennale- und Festivaleröffnungen vor. Den Beginn machte am Mittwochabend die „Berlin Biennale“, deren 8. Ausgabe an drei getrennten Orten – im Haus am Waldsee, in den Museen Dahlem und in den Kunstwerken – der internationalen Gegenwartskunst eine diskursive Plattform eingerichtet hat.
Das Haus der Kulturen der Welt konterte am Abend darauf mit einem nicht minder ambitionierten Programm: Das 3. „Documentary Forum“ bewegte sich vier Tage entlang der Schnittstellen Performance, Film, Fotografie und Kunst, um innerhalb dieser Grenzbereiche über die Spannung und Paradoxa bei der Herstellung von Narration sowie die Bedeutung bei der Gestaltung gesellschaftlicher Realität und gelebter Erfahrung nachzudenken. Rabih Mroués beispielsweise schilderte in der Ich-Perspektive eindrucksvoll, wie er im Alter von 17 Jahren um ein Haar sein Leben, seine Erinnerungen und darüber hinaus seine Fähigkeit zu sprechen verlor. Die gewaltsame Zerstörung seines Sprachvermögens war die Folge einer Kopfschussverletzung, die er sich als Passant auf der Straße während des Bürgerkrieges im Libanon zugezogen hatte und nach seiner Erzählung den Verlust der seit seiner Kindheit eingeübten Wahrnehmungsmustern zur Kommunikation mit und zur Annäherung an die Außenwelt bedingte. Diese sehr persönliche Erzählung, vorgeführt ohne viel Medien-Tam-Tam – mithilfe von zwei Aufnahmegeräten und einer Projektionsleinwand – bildete den gelungenen Auftakt des Festivals.
Dann ein Szenen- und Themenwechsel. Mit Kyoichi Tsuzukis skurriler, popkultureller „Late Night Lecture“ endete am Donnerstagabend im HAUdas zehntägige Festival „Japan Syndrome“, das Kulturschaffende dazu eingeladen hatte, sich mit dem ernsten Thema Kunst und Politik nach Fukushima auseinanderzusetzen.
Während nun andernorts mit ziemlicher Sicherheit eine thematische Einheitswurst über die vorgestellten Veranstaltungen gestülpt worden wäre, tut Berlin gut daran, sich eine facettenreiche Theater- und Kunstszene zu leisten und wird dies hoffentlich auch in Zukunft genauso fortführen.
Das Museum als Erinnerungskammer – die 8. Berlin Biennale
Juan A. Gaitàn, der vierzigjährige kolumbianisch-kanadische Kurator der diesjährigen Berlin Biennale legt mit seiner Ortswahl jedenfalls deutlich den Finger in die Wunde, welche der Abriss des Palastes der Republik zugunsten des derzeit in Rekonstruktion befindlichen Stadtschlosses innerhalb der Berliner Architekturlandschaft geschlagen hat. Inwieweit wird Geschichte bemüht, die Hegemonie bestimmter vorherrschender Erzählungen zu verfestigen, so lautet die spannende Ausgangsfrage Gaitáns? Nach Berlin eingeladen hat er rund 50 KünstlerInnen aus aller Welt, die sich mit ihren größtenteils neu geschaffenen Arbeiten dem Phänomen Stadt, insbesondere dem Museum als Wissensspeicher annähern.
Diese Biennale führt in eine regelrechte Erinnerungskammer, in das idyllisch gelegene Gebäude-Ensemble Museen Dahlem, das von außen einem modernen funktionalen Architekturkörper gleicht, in dessen Inneren die Zeit jedoch schon lange still zu stehen scheint. Niemand, kein Politiker, Direktor oder Kurator scheint sich daran zu stören, dass die Art und Weise, wie Kultur in den weiträumig angelegten Hallen nacherzählt wird, größtenteils überholt ist. Platz wäre dabei satt. Und die einzigartigen Exponate sprechen ohnehin für sich. In einigen Jahren, 2019, soll das Museum für Asiatische Kunst und das Ethnologische Museum dann in das Humboldt-Forum nach Berlin Mitte umziehen. Zurück bleiben wird das Museum außereuropäischer Kulturen. Doch bis das historische Prachtschloss, indem sich das Humboldt-Forum befinden wird, tatsächlich steht, vergehen noch mindestens fünf Jahre. Bereits jetzt könnte diese Zeitspanne sinnvoll genutzt werden, um die Präsentationsmodi der Sammlungen insgesamt zu überdenken. Denn seitdem das World Wide Web so vielfältige Fenster auf die entlegensten Winkel dieser Erde geöffnet hat, sich die Länder im Zuge der globalen Entwicklung immer mehr angeglichen haben, gruselt einem regelrecht in Anbetracht der in Vitrinen zur Schau gestellten kunsthandwerklichen Alltagsobjekte.
Einige dieser Vitrinen kurzerhand leer geräumt hat die kanadische Künstlerin Judy Radul. Mit ihrem in den Kunst-Werken gezeigten Beitrag schlägt sie eine Brücke zu dem im entfernten Dahlem gelegenen Biennale-Standort, wo die Sammlungspräsentation wie gesagt derzeit einen Dornröschenschlaf fristet. Arbeiten von fünfzehn internationalen agierenden Künstlern, darunter auch so erprobte Biennale-Teilnehmer, wie Anri Sala, Wolfgang Tillmans, Rosa Barba oder Carsten Höller, hat Gaitán auf mehrere Etagen des Gebäudekomplexes verteilt. Bewusst verzichtet sein Parcours auf allzu deutliche Wegweiser. Nicht wenige verirren sich daher auf dem Weg, etwa zu Tarek Atouis Musikprojekt, das sich in der wahrlich überwältigenden Südsee-Sammlung befindet. „Where’s the Biennale – wo ist die Biennale?“, diese etwas verzweifelte Frage bekommen Museumswärter dieser Tage häufig von den herumirrenden Biennale-Gästen gestellt. Dieses „Sich-Verirren“ in dem Erinnerungsgehäuse Museum, das hier als ein Heterotop sichtbar wird, ist der eigentliche Geniestreichs Gaitáns, der uns mit einem schwierigen Problem ethnologischer Forschung konfrontiert, das derzeit auch andere Großstädte umtreibt: Wie präsentieren wir Europäer unser koloniales Erbe?
Wie wollen wir künftig andere kulturelle Strömungen bzw. Länder präsentieren – weiterhin in ihrer Andersartigkeit oder wäre es nicht an der Zeit viel mehr die Einflüsse zu betonen, statt das ewig Exotische, Wilde?
Die Migration der Form
Gaitáns Biennale macht die Einverleibung abstrakter Formen, Techniken und Materialen seitens zeitgenössischer Kunst transparent. Er zeigt uns auch, dass wissenschaftliche Techniken, die im Zeitalter der Forschungsreisen entwickelt wurden, wie das Sammeln, Katalogisieren und Systematisieren, bis heute in der Kunstproduktion ihren Niederschlag finden und wie diese Praktiken von den Biennale-Künstlern zumeist poetisch umgewandelt werden. Womöglich bedingt durch den Fokus der Dahlem-Sammlungen auf kunsthandwerkliche Fertigkeiten rücken einige Arbeiten nahe ans Design heran. Dies lässt sich sowohl im traditionellen Zentrum der Berlin Biennale, in den Kunst-Werken (KW) beobachten als auch bei den neu hinzu gekommenen Standorten. Da wäre etwa Leonor Antunes zartes Mobile, geknüpft, geflochten und geschlungen aus natürlichen Fasern sowie Wurzeln, ausgestellt im KW oder jene Art Gebetsteppiche mit geografischen Mustern von David Chalmers Alesworth in Dahlem. Überzeugender als Alesworth Übernahme kunsthandwerklicher Praktiken sind die Zeichnungen des gebürtigen Engländers, der heute im pakistanischen Lahore lebt. Seine Serie „Trees of Pakistan“ illustriert den unachtsamen Umgang der Stadtbevölkerung mit der Randerscheinung Natur. Verlassene, wunderschöne und dabei seltsam anonyme Naturlandschaften offeriert uns dagegen Rosa Barbas 35-mm Film-Installation mit seinen bombastischen Bildern. Noch rätselhafter als der Erzählstil der Wahlberlin ist jedoch Wolfgang Tillmans mehrteilige Arbeit, die gleichfalls in Dahlem zu sehen ist: ein überdimensionaler Turnschuh steht in einer ansonsten leeren Vitrine und stellt keinen offensichtlichen Bezug zu den an den Wand hängenden Fotografien her. Tillmans Beitrag ist sperrig, verschließt sich wie so oft einer Lesbarkeit und wirft sogleich die Frage auf, ob es überhaupt die Aufgabe der bildenden Künstler ist, Kommentare zur ethnologischen Forschung zu liefern? Noch dringender stellt sich die Frage: Wie adäquat eignen sich thematisch wie historisch bereits besetzte Orte, wie das Museumsensemble, um darin Kunst zu zeigen, die für sich eine neutrale Zelle beansprucht?
Eine solche neutrale Zelle bzw. White Cube ist die Villa Haus am Waldsee ausgerechnet nicht. Was die dort ausgestellten Arbeiten dennoch interessant macht, ist der Gedanke des Archivierens von Wissen in Form von Kunst, Literatur und Wissenschaft und das Anlegen privater Sammlungen, der die gesamte Präsentation durchzieht. Geschichte wird hier quasi mit dem Knarzen des Holzbodens beim Durchlaufen durch die Räume ins Bewusstsein gerückt. Aufgrund der Kleinteiligkeit der Arbeiten funktioniert der Ort.
Ob sich unsere Museen künftig kollektiv in Wunderkammern zurückverwandeln oder zu mediale „Mitmachmuseen“ entwickeln, wie kunsthistorisches Wissen sinnvoll bewahrt werden kann und wie wir unseren Blick „hier“ auf die „anderen dort“ erweitern wollen, dies zu lösen, bleibt die Herausforderung der nächsten Jahre und dazu liefert die „Berlin Biennale“ ausreichend Anregung zum Nachdenken.